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Antisemitismus ist der falsche Begriff

Der richtige Begriff macht die richtige Denkweise. Mit der Theorie des „Othering“ wird die Logik des Antisemitismus mit einem Verständnis der Andersheit des „Semitischen“ zu kontrastieren. Dabei werden zunächst die Unterschiede zwischen einer Begründungslogik und einer Funktionslogik erläutert. Anhand zweier Beispiele (Nirenberg, Salzborn) wird gezeigt, wie unterschiedlich Deutungen des Antisemitismus in Geschichte kontextualisiert werden können. Darauf aufbauend wird die Unterscheidung von passivem und aktivem Othering entwickelt. Vor diesem Hintergrund wird dann nach den Bedingungen der Möglichkeit von Konturen des „Semitischen“ gefragt.

Der Begriff Anisemitismus, der 1879 als Eigenbezeichnung deutscher Judenfeinde um den Journalisten Wilhelm Marr eingeführt wurde sollte also nicht mehr so undifferenziert verwendet werden.



1. Antisemitismus zwischen Begründungslogik und Funktionslogik

Es gehört zur traditionellen Ordnung (nicht nur) der deutschen Sprache, dass zwischen Antisemitismus und Antijudaismus unterschieden wird. Während mit Antijudaismus vor allem ein Set an, über Jahrtausende etablierten, religiös (= vor allem christlich) motivierten Diskriminierungstheorien und Diskriminierungspraktiken gegenüber Jüdinnen und Juden in den Blick genommen wird, steht Antisemitismus in einem anderen Referenzrahmen. Die Bezeichnung Antisemitismus wird aus Klassifizierungen der Gattung „Mensch“ im Kontext solcher moderner Natur-„Wissenschaften“ des 19. Jahrhunderts abgeleitet, die als Ordnungsprinzip die Unterscheidung von sogenannten menschlichen „Rassen“ eingeführt hatten. Der Referenzpunkt des „Anti-Semitismus“ war damit zunächst eine vornehmlich biologistisch-rassistische Konstruktion eines Anderssein, das als „semitisch“ gelabelt wurde. Typologisch vereinfacht könnte man sagen: Während Antijudaismus primär auf eine bestimmte Normalität in der Ordnung von Kultur zielt, richtet sich der Antisemitismus auf die Normalität in der Ordnung von Natur (als Norm wiederum für Kultur). Beides jedoch wirkte nachhaltig auf Staat und Gesellschaft.

Aus heutiger Sicht ist diese Unterscheidung von Antisemitismus und Antijudaismus richtig und falsch zugleich. Ja, vielleicht ist die Unterscheidung sogar überholt und irreführend. Denn in beiden Fällen wird der oder die sowohl imaginäre als auch reale Andere als „jüdisch“ konstruiert. Eine Konstruktion aber hat eine Begründungslogik und eine Funktionslogik, die gemeinsam erst eine Wirkungsmacht konstituieren. Diese grundlegende Unterscheidung spielt für bildungstheoretische Erwägungen eine wichtige Rolle, verweist doch die Begründungslogik auf eine Art Überbau, den das Zusammenwirken unterschiedlicher Motive auf der Ebene der Funktionslogik benötigt, um in alltäglicher Realität sichtbar und wirksam zu werden. In der Begründungslogik wird nach den Ursachen und der Herkunft, also den Begründungen von Etwas gefragt, während bei der Funktionslogik die Wirkweise in den Fokus rückt. Kommunikation, Gesetzgebung, politische Maßnahmen, aber auch Bildung repräsentieren beispielsweise die Funktionslogik, während die Begründungslogik vor allem nach historischen und empirischen Entstehungsursachen und deren Transformation in Deutungsmuster und Handlungspraxen sucht. Die Trennung von Begründung und Funktion folgt einem typologischen Denken und erfüllt vor allem einen heuristischen Zweck. In dieser heuristischen Perspektive kann die These begründet werden: Mit Blick auf die Begründungslogik ist die Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus weiterhin erkenntnisgenerierend, während sie mit Blick auf die Funktionslogik überholt scheint.

Die Unterscheidung ist also zunächst insofern richtig, als sie sich auf unterschiedliche Begründungslogiken der Konstruktion von „jüdischen“ Menschen und „dem“ Jüdischen als dem fremden, feindlichen, bedrohlichen Anderen bezieht. Diese Konstruktion ist der Form nach zunächst eine spezielle Variante eines höchst folgenreichen „Othering“, das Julia Reuter als VerAnderung „übersetzt“ hat. Nach Reuter bedeutet VerAnderung, dass „der Fremde als Anderer eben nicht einfach gegeben ist, auch niemals gefunden oder entdeckt, beschrieben oder beobachtet werden kann, sondern daß er durch seine Entdecker, Autoren und Beobachter mithervorgebracht wird und damit die spezifische Beziehung zwischen Forscher und Forschungsobjekt als hinreichendes Kriterium für Fremdheit in Erscheinung tritt.“„Der“ Jude und „die“ Jüdin als exemplarische „Fremde“ wurden – historisch betrachtet – dabei in der Regel mit Normvorstellungen der Abwertung verbunden. Diese Abwertung pendelte kommunikativ zwischen konkreten Unterstellungen und raunendem Verdacht. Die Koordinaten der Begründungslogik von Anderssein, Nicht-Zugehörigkeit und – vor allem – daraus abzuleitender Ausgrenzung sowie psychischer wie physischer Diskriminierung haben sich vom Antijudaismus hin zum Antisemitismus verschoben: weg von einer kulturell-sozialpolitischen Bestimmung von diskriminierender Normalität hin zu biologistisch-sozialpolitischen Ausgrenzungssettings. Von dort aus ergibt diese Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus historisch und in historischer Perspektive auch systematisch eine logisch nachvollziehbare Differenz.

Gleichzeitig aber führt diese Unterscheidung in die Irre und lenkt ab von einer Dimension, die dem Antijudaismus und dem Antisemitismus dem Kern nach immer gemeinsam anhaftet, weil sie sonst wirkungs- und folgenlos bleiben müssten: die Existentialität einer spezifischen, letztlich auf Entscheidungen basierenden Vor-Urteilsstruktur. Wenn wir nämlich nicht auf die Begründungslogik, sondern auf die Funktionslogik der Bestimmung von „jüdischer“ Andersheit schauen, fragen wir danach, wie die Settings anthropologisch angebunden werden, wie sie funktionieren oder um es salopp zu formulieren: Was machen diese Bestimmungen von Normalität wie mit Menschen? Dann weisen Antijudaismus und Antisemitismus unterschiedslos auf das zurück, was einerseits die Kopplung einer Begründungslogik an Lebenswirklichkeit und damit zugleich andererseits die Voraussetzung jeglicher Wirkung ausmacht. Diese Kopplung kann aus Erkenntnisgründen wiederum unterschieden werden in individualanthropologische und sozialanthropologische Dimensionen. Bei näherer Betrachtung dieser Dimensionen wird deutlich: Antijudaismus und Antisemitismus gleichen sich in der Funktion, die sie in beiden anthropologischen Hinsichten haben.

Die sozialanthropologische Dimension der Funktion realisiert sich in einer Praxis sozialer „Normalität“, in die jene konkreten Unterstellungen (von Gottesmord und Brunnenvergiftung bis hin zu weltbeherrschender „Schattenmacht“ und biologischer Minderwertigkeit) und raunenden Verdachtsfiguren (wer ist eigentlich schuld an dieser oder jener Krise?) gegenüber „dem“ „Jüdischen“ gleichermaßen eingebaut werden. Dies ist sowohl soziologisch, kommunikationswissenschaftlich als auch (sozial)psychologisch von zentralem Interesse.

Für den (religions)pädagogischen Kontext ist jedoch vor allem die individualanthropologische Kopplung von Bedeutung, verweist diese doch auf einen universalen Kern des Mensch-Seins: den Umgang mit dem eigenen Lernen und die Verantwortung für das eigene Lernen. In diesem Sinne ist Antisemitismus ein bzw. der Testfall für jegliche Bildung. In den Fokus rücken dann die eigenen Vor-Urteile im Verstehensprozess als Basis aller Lernprozesse und deren interne Reflexion und Steuerung. Es geht der Sache nach darum, dass Menschen sich bewusst oder unbewusst, schweigend-hinnehmend oder aktiv-grölend, ignorant-apathisch oder emotional-getrieben für ein bestimmtes Vor-Urteil in ihrer Weltwahrnehmung und der daraus resultierenden Alltagspraxis entscheiden (können). Dieser Entscheidungsprozess trotz und inmitten aller denkbar determinierender Umstände resultiert in letzter Konsequenz aus nichts anderem als dem selbstreflexiven Umgang mit dem Lernen und der Wahl zwischen verschiedenen Formierungsmöglichkeiten des Selbst. Der oftmals erinnerte Grundgedanke, dass Niemand als Antisemit oder Antisemitin geboren wird, hat darin, in der bildungstheoretischen Relevanz (von Antijudaismus und Antisemitismus), sein anthropologisches Fundament. In dieser anthropologischen Perspektive ergibt die Unterscheidung von Antisemitismus und Antijudaismus (jenseits der funktionalen Äquivalenz) auch alleine deswegen keinen Sinn mehr, weil das Label Antisemitismus in der öffentlichen Kommunikation jegliche Formen von religiösem und kulturellem Antijudaismus begrifflich in sich aufgesogen hat. Deswegen soll nachfolgend auch – in einer quasi „modernen“ Fassung – von Antisemitismus im Sinne eines generellen Diskriminierungsdenkens und Diskriminierungshandelns gegenüber Juden, Jüdinnen und „dem“ Jüdischen die Rede sein.

Die bildungstheoretische Funktion, die Deutung von und den Umgang mit „dem“ Jüdischen als ein prägendes und weitreichendes Motiv im persönlichen Set an Vor-Urteilen zu begreifen, ist in der Praxis vor allem mit diesem, fast konturenlosen Verständnis von Antisemitismus konfrontiert. Unter diesen Vorzeichen gehört der Antisemitismus als eine der festgefahrensten und folgenreichsten Varianten des Othering[14] ins Zentrum eines aufgeklärten, ent-idealisierten Verständnisses von „Bildung“. Denn bildungstheoretisch stellen der Umgang mit und die je individuelle und damit un-ent-schuldbare Verantwortung für antisemitische Deutungsmuster wesentliche Bausteine im unbewussten und zum Teil bewussten Umgang mit Vor-Urteilen im eigenen Weltverstehen dar.

2. Antisemitismus als Projektionsfläche – Pfade

Um zu illustrieren, wie virulent und wirkmächtig diese doppelte Logik bis in die Gegenwart ist, kann auf ganz unterschiedliche Deutungen von Antisemitismus als Konstruktionen von Anders-Sein verwiesen werden. Why the Jews? Aus einer Beobachterperspektive gehört es zu den faszinierenden und zutiefst verstörenden Einsichten, dass das Jüdische und konkret Menschen, die sich selbst als „jüdisch“ verstehen oder eben von „außen“ als zugehörig gelabelt werden, eine der Projektionsflächen für ein diskriminierendes Othering gebildet haben und bilden. Warum? Diese Frage ist so vielschichtig, abgründig und aus unterschiedlichsten Perspektiven bedacht worden, dass hier typologisch nur zwei wesentliche Figuren erinnert werden sollen, die den Sachverhalt an sich auf je eine Kernidee hin versprachlichen. Die eine Figur kann so skizziert werden, dass es sich beim Antisemitismus (der in diesem Fall als Antijudaismus bezeichnet wird) um eine Art kulturelles Dauernarrativ des diskriminierenden und ausgrenzenden Othering handelt. Zeitlich erstreckt sich dieses Othering von der vorchristlichen Antike bis in die Gegenwart hinein – in immer neuen Varianten, basierend jedoch auf einigen, zentralen Grundannahmen. Die andere Figur hebt hervor, dass der Antisemitismus als ein bleibend gegenwärtiges Phänomen nur aus dem spezifischen, insbesondere ökonomischen und politischen Strukturwandel der Moderne im Gefolge der europäischen Aufklärung verstanden werden kann.

Das eine Deutungsmuster hat David Nirenberg in seinem epochalen Werk „Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens“ entwickelt. Die Grundfigur des Antijudaismus führt Nirenberg auf das alte Ägypten zurück, in dem fünf Grundelemente zur „Charakterisierung der Juden“ formiert worden seien, die vermittelt über das Christentum und die europäische Kulturgeschichte (in Varianten) bis in die Gegenwart fortwirken.

„1. Die Juden sind ein Volk, das aus Ägypten vertrieben wurde.

2. Ihre Praktiken sind denen aller anderen Völker diametral entgegengesetzt, vor allem Ägyptern und Griechen.

3. Sie sind die Feinde aller Götter.

4. Wann und wo immer sie herrschen, herrschen sie grausam und tyrannisch.

5. Sie sind Misanthropen, nicht nur Feinde Ägyptens, sondern der ganzen Menschheit.“

Dieses Othering, diese Deutungsspur des prinzipiellen Anderssein, verfolgt Nirenberg von der Antike bis in die Moderne und zeigt, wie solche Zuschreibungen zu Ausgrenzungen bis hin zu aktiver Diskriminierung und physischer Vernichtung geführt haben. In dieser Spur der europäischen Kulturgeschichte wurde die „Umwandlung von Vorstellungen vom Judentum in Werkzeuge des sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Denkens“ zur Konstruktion des fremden, des feindlichen und zum Teil eben zu vernichtenden Anderen herangezogen. Antijudaismus erweise sich – in wechselnden historischen Kontextualisierungen, jedoch strukturfunktional immer ähnlich – als ein „machtvoller theoretischer Rahmen, um die Welt zu deuten.“ Über die Diskriminierung des Jüdischen als des fremden und vermeintlich bedrohlichen Anderen werde eine Legitimation der eigenen Herrschaft betrieben – abstrakt in Deutungen von Normalität, konkret im daraus zu aktivierenden politischen Agieren. Damit gehe es in der Konstruktion des exemplarischen Anderen nicht zuletzt um Legitimationsstrategien eigener Herrschaft. Zum Instrumentarium dieses Vorgehens gehörten in der Neuzeit unter anderem die Logik von Geld, Warenverkehr und Eigentum[19] sowie die „Stigmatisierung des abstrakten, logischen und angeblich hyperrationalen Denkens als ‚jüdisch‘.“[20]Hinter all diesem stand letztlich eine „traditionsreiche Verwechslung des vorgestellten mit dem realen Juden.“[21] In Nirenbergs Darstellungsgang wird deutlich, wie Antijudaismus und Antisemitismus funktionale Strukturäquivalente sind. Der Antijudaismus geht dabei letztlich im modernen Antisemitismus als grundlegendes Konstruktionsarrangement von als negativ stigmatisierter Andersheit auf.[22]

Ein Beispiel für die zweite Figur repräsentiert Samuel Salzborn in seinen Studien zum „Globalen Antisemitismus“. Antisemitismus habe sich danach als eine Projektionsfläche für die Schattenseite und die Klage über die uneingelösten Versprechen der Aufklärung etabliert. Dieses Fremdeln mit der Aufklärung führe dazu, dass „die nicht ertragene Ambivalenz der Moderne auf das projiziert wird, was der/die Antisemit/in für jüdisch hält.“[23] Oder sozialanthropologisch zugespitzt formuliert: „Jüdinnen und Juden werden im antisemitischen Weltbild mit jeder (potenziellen) emanzipatorischen Errungenschaft der Moderne identifiziert.“[24] Salzborn unterscheidet dabei drei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche, bei näherem Hinsehen im Ziel jedoch ähnliche Wege, die eine je eigene Deutung der globalen Moderne über die genannten antisemitischen Motive entwickeln. So sei neben „dem Nationalsozialismus und dem Linksterrorismus […] der islamische Antisemitismus die dritte supranationale Bewegung“[25], die den „Neuen“ Antisemitismus[26] als abwehrendes Deutungsmuster sozialer Realität zu etablieren sucht. Die gemeinsame Grundlage aller drei Denkrahmen von Antisemitismus sei dabei der abwehrende Reflex gegenüber der unter den Vorzeichen der Aufklärung stehenden Moderne und eine damit verbundene Skepsis gegenüber Universalismus und allgemeiner bzw. allgemein-verbindlicher Humanität. „Die Verbindungslinien, die sich zwischen rechtem, linkem und islamischem Antisemitismus ergeben, kulminieren in der gemeinsamen Vorstellung einer grundsätzlichen Ablehnung von Aufklärung und Liberalismus und dem Ansinnen, die Vorstellung und Realität des Menschen als freiem und gleichem Individuum wie politischem Subjekt zu bekämpfen. […] Er richtet sich immer gegen Jüdinnen und Juden – und alle und alles, was von Antisemit(inn)en als jüdisch verstanden wird, also letztlich potenziell alle und alles, was ihnen verhasst ist.“[27]

3. Die offene Frage – Annäherungen an eine Korrespondenztheorie

Die Komponenten eines kulturellen Dauernarrativs oder der Reaktionsmechanismus auf die aufgeklärte, globale Moderne sind somit typologisch zwei Ansätze, die aufzeigen, aus welchen historischen und systematischen Zusammenhängen Antisemitismus verstanden werden kann. Nicht zuletzt mit Blick auf die bildungstheoretische Bedeutung der entsprechenden Vor-Urteile stellt sich die Frage, was aus dieser vornehmlich begründungslogischen Analyse von Antisemitismus folgt. Funktionslogisch unterscheiden sich die Erklärungen nicht. Antisemitismus ist in beiden Fällen eine Inszenierung von etwas, was als „semitisch“ bezeichnet, in die Definition von kultureller Normalität transformiert und als Vor-Urteil ins eigene Denken und Handeln integriert wird. Wie kann diesen Inszenierungsangeboten entgegnet werden?

Darüber lassen sich mindestens zwei Folgerungen denken. Die eine Folgerung kann als Aufklärung durch einen kritischen Universalismus, die andere als Aufklärung durch eine kritische Gegenkonstruktion bezeichnet werden.

Die Aufklärung durch einen kritischen Universalismus funktioniert über eine Relativierung oder – in letzter Konsequenz – Bestreitung einer Sonderheit des „Semitischen“. Das Partikulare an sich ist vielleicht nicht zu nivellieren und kann positiv in eine Wertschätzung kultureller Vielfalt integriert werden. Die Betonung einer Sonderheit oder gar eine normative Orientierung am Partikularen sind jedoch letztlich verdächtig, kann die Grundlage für ein gemeinsames, friedliches und respektvolles Miteinander – nach diesem Ansatz – nur in der Anerkennung einer allgemeinen Menschenwürde bestehen.

Die Aufklärung durch eine kritische Gegenkonstruktion funktioniert anders, nämlich über die aktive Bestimmung einer spezifischen Partikularität und damit Sonderheit des „Semitischen“. „Das“ „Semitische“ als Gegenkonstruktion verweist auf anthropologische und soziale Muster, die grundlegend für die Deutung des Menschen als individuelles und soziales Wesen sind. Damit verweist die Gegenkonstruktion indirekt auch darauf, dass die Bestimmung von Universalität bis auf wenige elementare Aussagen[28] selbst normativen Narrativen unterworfen ist.

Die Aufklärung über einen kritischen Universalismus ist etabliert, die Aufklärung über eine kritische Gegenkonstruktion ist – mehr oder minder – tabuisiert oder zumindest im Kontext von Antisemitismus verschwiegen. In beiden Folgerungen geht es um die Art des Umgangs mit Othering.

Die Aufklärung über einen kritischen Universalismus äußert sich vor allem in dem Kampf gegen das diskriminierende, Menschen zu passiven Objekten machende Othering. Othering als solches ist dann an sich ein bzw. das Problem, die spezielle Form des antisemitischen Otherings der Ansatz für ein Gegen-Handeln. Dann geht es um ein Auf-Zeigen, wie un-möglich, un-denkbar und letztlich un-menschlich VerAnderung allgemein und diese VerAnderung im Besonderen ist. Die Un-Möglichkeit dieses Otherings zielt auf die individuelle Verantwortung in der Formierung eines Selbst ebenso wie auf die kulturelle Formierung von Normalität. Ein wesentlicher Verweisrahmen für diese Argumentation sind neben der geschichtlichen Erinnerung an die Folgen partikularistisch begründeter Ausgrenzungen die allgemeinen Menschenrechte und das Plädoyer für die Unverzichtbarkeit der Einsicht, dass Mensch-Sein nur universal denkbar ist. Historische Erinnerung unter anderem, aber nicht nur an die Shoah einerseits und der Verweis auf eine universale Würde des Mensch-Seins andererseits entfalten danach ein Deutungsmuster, das eine Appellstruktur an die Selbstreflexion des Individuums in sich trägt. Von dort aus werden in letzter Konsequenz alle Formen des Othering insbesondere in Form von Kollektivzuschreibungen fraglich und die Pluralität von, nicht die Pluralität negierenden Lebensformen zur leitenden Norm.

Ulrich Beck hat in diesem Sinne die Frage formuliert: „Wie aber läßt sich ein begrenzter, relativistischer oder kontextueller Universalismus erfinden, dem die Quadratur des Kreises gelingt, universalistische Normen zu behaupten und diesen den imperialen Stachel zu ziehen?“[29] Samuel Salzborn stellt in ähnlicher Weise die Forderung auf, „einen Universalismus radikal neu zu entwickeln, der zugleich antiidentitär und antimissionarisch sein müsste. […] Ein neuer Universalismus, der die Demut der menschlichen Sterblichkeit zurückerlangt, aber dafür nicht mit dem Preis der Erkenntnis des Menschen als des Menschen höchsten Subjekt zahlt: universale Freiheit und Gleichheit in Demut, aber eben nicht in Selbst- und/oder Fremdunterwerfung.“[30]

Gerade angesichts der Geschichte der Globalisierung resp. Kolonialisierung und insbesondere mit Blick auf Entwicklungen des 20. Jahrhunderts hat die Orientierung am Universalismus jedoch ihre unschuldige Naivität verloren. So ist Salzborn durchaus bewusst, dass gerade im Namen der Aufklärung der Universalismus nicht nur nicht eingelöst, sondern zur Etablierung und Tarnung ökonomischer und kultureller Ungleichheit instrumentalisiert wurde. Es kann also nicht mehr um einen naiven, instrumentellen Universalismus gehen. Gefordert ist vielmehr ein kritischer Universalismus, der die (zumeist ökonomischen und kulturellen) Unterdrückungsmechanismen und Ausgrenzungsstrategien, die in einem Verweis auf die Gleichheit aller Menschen zuweilen und dann zumeist implizit mitgeführt werden, identifiziert, benennt und als Problem bearbeitet.

Die bildungstheoretische Konsequenz besteht dennoch primär darin, die anthropologischen Universalien der Lernbefähigung und der Lernbedürftigkeit sowie eine universelle Gültigkeit von elementaren Menschenrechten zur Norm für die Formierung individual- und sozial-anthropologischer Vor-Urteile zu erheben. Zu beiden Aspekten muss ein Mensch, wenn er sich seines Mensch-Seins bewusstwird, ein reflektiertes Verhältnis einnehmen und darauf eine Verantwortung für die eigene Vor-Urteils-Struktur im Denken und Handeln aufbauen. Es geht um ein Bewusst-Werden durch Bewusst-Machung, dass eine tragfähige Würde des Selbst nur durch eine Anerkennung universalen Mensch-Seins möglich ist. Vor diesem Hintergrund eines Konzepts der Selbst-Achtung würde – so der Grundgedanke – dem Antisemitismus als Bestreitung des Mensch-Seins eines kollektiven und individuellen Anderen die Grundlage entzogen. Didaktisch betrachtet ist dieses Konzept unaufgebbar, orientierungsleitend und in viele, sehr unterschiedliche Entwürfe für die praktische Bildungsarbeit umgesetzt worden.

4. Aktives Othering – ein Deutungsrahmen

Und dennoch stellt sich die Frage, ob neben die Aufklärung durch einen kritischen Universalismus auch das in einer gewissen Weise tabuisierte Nachdenken durch Aufklärung über eine kritische Gegenkonstruktion treten darf. Vor dem Hintergrund der Eingangsabschnitte darf das Folgende eigentlich gar nicht geschrieben werden. Denn letztlich – und dies wäre selbstkritisch zu fragen – folgen die nachfolgenden Überlegungen nicht nur einer Logik des Othering, mit der alleine bereits eine bestimmte Irritation erzeugt wird. Darüber hinaus berührt es eine Art Tabu des Denkens, weil ein „Außenstehender“, ein „Nicht-Dazugehöriger“ in einer Weise über „Etwas“ darüber spricht, die nur allzu schnell zu Missverständnissen und Missdeutungen führen kann.

Dennoch: Es soll danach gefragt werden, ob dem Anti-Semitismus als Spiegel und Projektion in formaler Hinsicht nicht logisch „zu Recht“ eine Andersheit korrespondiert, die als „Semitismus“ (in einem kulturellen Sinne) näher umrissen werden kann. Der entscheidende Punkt ist dabei jedoch nicht die formale Korrespondenz, sondern deren nähere materiale Bestimmung und normative Einordnung. Anders formuliert: Es soll gefragt werden, ob nicht aus guten Gründen von „dem“ „Semitischen“ als dem exemplarischen, provokativen Anderen gesprochen werden kann – von der Antike an und mit einer besonderen, funktionalen Neubewertung im Gefolge der Aufklärung.[31] Dies setzt eine nähere Bestimmung bzw. Codierung voraus. Wenn das Semitische in dieser Weise näher bestimmt werden soll, stellt sich die Frage, womit bzw. worüber dies geschehen kann. Wodurch kann der raunend-beliebigen und konturenlos-offenen Unbestimmtheit des Antisemitismus als Projektionsfläche für Hass und Diskriminierung eine näher bestimmte, eine konkrete Andersheit entgegengesetzt werden – eine andere Andersheit, die ein „positives“ Deutungsangebot von Sein und Gesellschaft macht, zu dem man sich aus, in eigenen Vor-Urteilen zu verantwortenden Gründen zustimmend oder ablehnend verhalten kann? Die These lautet:

Das hebräische Paradigma[32], so wie es aus der Hebräischen Bibel und insbesondere der Thora konturiert werden kann,[33] ist eine bzw. „die“ kulturelle Codierung des Semitischen.[34]

Das hebräische Paradigma (d. h. hier: die kulturelle Codierung des Semitischen) zeigt sich in einer bestimmten Anthropologie und einem darauf aufbauenden Verständnis von Kultur bzw. Sozialität des Mensch-Seins. Das hebräische Paradigma als kulturelle Codierung des Semitischen erzeugte und erzeugt das Bild einer Andersheit, das auf einem Verständnis vom Menschen als ebenso freies wie verantwortliches, ebenso fragiles wie nicht festgelegtes Wesen basiert und in einer Verfasstheit des sozialen Zusammenlebens unter solchen anthropologischen Vorzeichen zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise wird auch die sprachliche Ordnung im Umgang mit Antisemitismus verändert. Es entsteht – optimistisch zu Ende gedacht – so etwas wie eine rationale Grundlage, um neben aller unverzichtbaren Zurückweisung und Bekämpfung des Dumpfen im Antisemitismus sowohl emotional wie rational mit Blick auf die Verständigung des Menschen mit sich selbst über sich selbst (= Bildung) einen anderen Gesprächsfaden zu eröffnen. Es geht dann um das exemplarische Andere, das nicht nur an sich und für sich eine notwendig fremd bleibende Andersheit[35] darstellt, sondern je für mich ein Deutungsangebot meines Selbst, der Geschichte, Gegenwart und Zukunft repräsentiert.

Methodisch steckt dahinter die Idee eines nicht-essentialistischen Essentialismus, der das „Semitische“ als kulturellen Essentialismus zugleich behauptet und im Moment der Behauptung mit dem Verweis darauf aufhebt, dass dem Menschen sowohl aus Gründen der Erkenntnistheorie als auch der Ethik jeglicher Essentialismus verwehrt ist. Denn: Bildungstheoretisch gibt es für alle Menschen nur eines: Vor-Urteile, die (in unterschiedlichen Graden) frei zu wählen und (in jedem Fall) ethisch zu verantworten sind. Die Provokation, mit der den diskriminierenden Essentialismen des Antisemitismus begegnet werden könnte und sollte, besteht dann gerade darin, eine Denkfigur eines nicht-essentialistischen Essentialismus zu entwickeln, eines Essentialismus, der sich als kommunikativ notwendig und sinnvoll, erkenntnistheoretisch und ethisch jedoch unmöglich durchschaut. Kommunikativ würde dann das als ein Set anthropologischer und kultureller Deutungsmuster verstandene Semitische so eine kulturelle Essenz, ein „Wesen“ bestimmen, das dem (gleichzeitig konturenlosen und raunend-qualifizierten) Semitismus-Bild des „gängigen“ Antisemitismus etwas Alternatives als anders bestimmte Andersheit entgegenzusetzen vermag.

Wenn das Semitische über die nähere Bestimmung des Hebräischen als ein bestimmter kultureller Code verstanden wird, ergeben sich unter anderem weitreichende Konsequenzen für die Deutung von Geschichte. Mit einer solchen Bestimmung des „Semitischen“ über das kulturell gedeutete Hebräische als erkenntnisleitendes Prinzip sind Rückfragen verbunden wie die, ob und inwieweit die europäische Kulturgeschichte durch einen Rahmen an (durchaus heterogenen) Deutungsmustern geprägt war, die dieses exemplarische Andere alleine deswegen stigmatisieren und bekämpfen mussten, weil es wesentliche Legitimationsfiguren von weltlich-religiöser oder – was im Gefolge von Kaiser Konstantin noch abgründiger wurde – kirchlich-religiöser Macht gefährdete. Die Legitimation von Macht, von politischer Macht, führt zu Eindeutigkeit über Vereindeutigung. Diese Eindeutigkeit steht unter der Kontrolle der Machthabenden und legitimiert gleichzeitig deren Position. In einem solchen Zirkel wurden – wie Nirenberg es gezeigt hat – jüdische Menschen und jüdische Kultur in der Form instrumentalisiert, dass sie als exemplarische Andere ausgegrenzt und diskriminiert wurden, weil so die zirkulär-begründete Eindeutigkeit symbolisiert wurde. Diese Instrumentalisierung der Andersheit zur Stabilisierung praktischer Machtsicherung ist jedoch nur die eine Seite. Mit Blick auf die kulturellen Deutungsmuster wirft die spezielle Form der hebräischen Andersheit den Schatten der irdischen Relativität und Begrenztheit auf jegliche weltliche Macht (und sei diese kirchlich eingekleidet). Dieser Schatten aber ist in jeglichem totalitären, absoluten System un-denkbar und machtgefährdend. „Das“ „Hebräische“ ist alleine schon aufgrund der Unaussprechlichkeit des Gottes-Namens eine Konzeption eindeutiger Uneindeutigkeit und deswegen ohne eine kritische Hinterfragung jeglicher Macht undenkbar. Umzäunte Ambiguitätstoleranz ist dem hebräischen Paradigma als Methode eingeschrieben – sowohl der Erkenntnistheorie als auch der Ethik. „Das“ „Hebräische“ mündet so dekonstruktiv in einen innerweltlichen Atheismus.[36] Ein ent-idealisiertes und ent-heroisiertes Verständnis von Mensch-Sein unter den Vorzeichen von „Entfremdung“[37] gehört dann ebenso zu diesem Setting des exemplarischen Anderen wie eine andere, demokratische Legitimation von Macht, die sich immer mit einer legitimierten Normalität von Kulturkritik einerseits und den unaufhebbaren Zusammenhängen von Rechts- und Sozialpolitik andererseits[39] konfrontiert sah. Mit dem exemplarischen Anderen des „Hebräischen“ wäre dann verbunden, das Sein von der Zeit her als Geschichte unter einer gegenwärtigenden Erinnerung zu verstehen. Und mit Blick auf eine Moderne im Gefolge der Aufklärung: Es geht heute um jene Erinnerung, die in einer säkularisierten Form mit dem über Geschichte zu gewinnenden Verständnis von „Kollektividentität“ein Deutungsangebot enthält, wie sozialer Zusammenhalt nach dem Wegfall autoritativ-absolutistischer bzw. autoritärer Vorgaben (getarnt unter dem Deckmantel der Normalität von Tradition) in einer Kultur umgrenzter Uneindeutigkeit denkbar ist.

Dieser Denkweg einer Aufklärung als kritische Gegenkonstruktion behauptet nicht mehr und nicht weniger, als dass es gute Gründe dafür gibt, von dem „Hebräischen“ („Semitischen“ im kulturellen Sinne) als dem exemplarischen Anderen (zumindest der europäischen Kultur) in konstruktiver Weise zu sprechen. Die entsprechende andere inhaltliche Bestimmung dieser Andersheit würde dann auch eine andere Form der Auseinandersetzung mit der Aussage ermöglichen, die oftmals als Eigenheit des raunenden Antisemitismus hervorgehoben wird: Der Antisemitismus funktioniere als Projektionsfläche für ein generelles Unbehagen gegenüber Aufklärung, Moderne und Universalismus. Als kritischer Diskussionsimpuls könnte dann – im Bewusstsein der Grenzen eines nicht-essentialistischen Essentialismus – diesem raunenden Unbehagen in einer positiven Gegenkonstruktion entgegengehalten werden: Das Hebräische repräsentiert das Moderne, das Erbe und die unaufhebbare Gegenwart einer aus Differenz gespeisten kritischen Vernunft gegenüber weltlicher Macht, das Plurale, das Realistische einer potenziell immer gefährdeten Existenz des Individuums und der Gesellschaft, die Präsenz eines permanenten Appels, soziale Fürsorge, allgemeines Recht und innerweltliche Religionskritik in eine Balance zu setzen.

Im Bewusstsein, dass genau dies auch eine Form des „Othering“ ist, liegt eine letzte Wendung des Denkwegs in dem Verweis darauf, dass diese Differenz und diese Behauptung von Andersheit keineswegs nur eine Zuschreibung von außen sind. Das „Hebräische“, der „Semitismus“ im Sinne einer kulturellen Signatur beruht letztlich auf einer aktiven Selbstkonstruktion des Othering, also auf einem Prozess, in dem Menschen in dem biblisch-hebräischen Erinnerungsrahmen aktiv sich selbst als Andere, als Fremde in einer potenziell gefährlichen und gefährdenden Umwelt gedeutet haben und deuten. Es gehört zur Grundfigur des Erinnerns, über den Exodus und die damit verbundene Figur eines exemplarisch erwählten „Volkes“ (besser: einer exemplarisch erwählten Rahmung menschlicher Existenz als geschichtlicher Existenz) sich als anders zu verstehen. Das Hebräische gewinnt sich selbst erst aus einem aktiven Selbst-Othering. Das Hebräische als kulturelles Gestaltungsmuster einer – wie auch immer näher zu bestimmenden – Ortho-Praxie basiert auf einer selbst proklamierten und bestimmten Andersheit. So, als einen Prozess des aktiven Selbst-Othering oder – um es sprachlich gedrehter auszudrücken – der SelbstVerAnderung, kann das interpretiert werden, was in der Thora als Bund Gottes mit Israel, als Bund mit seinem Volk, charakterisiert worden ist.

Entscheidend für das Verständnis des aktiven Selbst-Othering sind danach zwei Sachverhalte: zum einen, wie die Andersheit inhaltlich gefüllt wird, zum anderen, ob und inwieweit in der Vorstellung von Andersheit eine bestimmte strukturelle Einordnung dieser Andersheit in ein allgemeines Verständnis von Kultur quasi eingebaut ist. Der erste Aspekt verweist auf die zuvor genannten Punkte, der zweite Aspekte auf die Auslegung des hermeneutischen Schlüssels, von dem aus Andersheit normativ eingeordnet werden kann. Dieser hermeneutische Schlüssel findet sich im Verständnis des Bundes, den Gott mit Israel und damit mit der nachexilischen sozialen Zugehörigkeit zum Judentum geschlossen hat. Zwei Motive scheinen dafür besonders aufschlussreich: zum einen das Repräsentationsmotiv (eines Umgangs mit Entfremdung), zum anderen die Selbstdefinition menschlichen Handelns als frei und verantwortlich.

Die Repräsentationsfigur findet sich in Genesis 12,3b: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ Dieser Gedanke laufe – so Hans-Walter Wolff – auf die „conclusio“ zu: „[I]m Abrahamsvolk kann die ganze Menschheit Segen gewinnen.“ Diese Vision des Segens für Alle werde hier letztlich „zum Schlüsselwort für das Verhältnis Israels zur Völkerwelt und der Völkerwelt zu Israel.“ Israel ist danach von JHWH erwählt, um der ganzen Menschheit einen Umgang mit der faktischen Entfremdung des Menschen in postparadiesischen Zeiten anzuzeigen, zu repräsentieren. Über diese, aus der abrahamitischen Bundesvorstellung resultierende Figur einer inkludierenden Heterogenität mit permanent kulturkritischer Begleitung wäre an anderer Stelle ausführlich zu schreiben.

Das andere Motiv wird im Exodus-Narrativ ausgedrückt. Michael Walzer hat den Punkt stark gemacht, dass der Exodus-Bund entscheidend für das Verhältnis der Menschen zu JHWH sei. Der Exodus ist der Wendepunkt im Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen. Im Unterschied zu den einseitigen Bundesschlüssen von Gott herab zu Personen wie Noah, Abraham und David werden im Exodus-Bund die Menschen als Vertragspartner angesehen, die für die Repräsentation und Einhaltung bestimmter Grundsätze des Bundes verantwortlich gemacht werden können.

In diesem Sinne werde der Mensch im Exodus-Bund als zur Geschichte berufenes und verpflichtetes Wesen angesprochen, das als frei und verantwortlich zu sehen ist. „Am Berg Sinai entscheidet […] das Volk, und dies impliziert, daß es nun besitzt, was ihm in Ägypten zu fehlen schien: die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Es verfügt nicht nur über natürliche Freiheit, sondern auch über freien Willen.“ Dies verändert die Anthropologie der absoluten Differenz (zu JHWH) grundlegend, denn jetzt wird der Mensch zum Partner aufgewertet, damit aber zugleich im Rahmen seiner „Kollektivindividualität“ in einer neuen Qualität für Geschichte verantwortlich: als Eindämmung der Entfremdung des freien Menschen in postparadiesischen Zeiten.

Im Antisemitismus zeigt sich dann ein folgerichtiger Abwehr- und Schutzmechanismus, wenn Menschen vor der Vorstellung Angst haben, dass weltliche Herrschaft immer relativ und die aus der Freiheit des Menschen resultierende persönliche Verantwortung absolut ist. Denn mit dieser Angst verbunden ist die Flucht vor dem Gedanken, dass der Mensch in seiner postparadiesischen Entfremdung vor allem eines ist: fragil, zerbrechlich, gefährdet. Genau dies provoziert als Reaktion Muster der Verdrängung und Unterdrückung, weil Menschen sich sonst ihrer eigenen Fragilität, Zerbrechlichkeit, Gefährdung und in letzter Konsequenz Sterblichkeit stellen müssten. Dies zu verdrängen, ist eine Lebensform. Denn „bei Antisemitismus, auch dem von Hitler, geht es ja immer um einen Haß auf Weichheit, auf Berührung, auf Bedürftigkeit. All das muß man aus sich selbst herausreißen, weil es einen an die eigene Not mit Mutter und Vater erinnert. Es ist ein Haß auf sich selbst, transformiert in eine Abstraktion, um ein Opfer außerhalb des eigenen Selbst bestrafen zu können.“

5. Antisemitismus und der Aus-Blick auf Bildung

Im Spiegel eines hebräischen Paradigmas würde sich zeigen, dass – nicht zuletzt anthropologisch betrachtet – der Antisemitismus vielleicht im mittelalterlichen Totalitarismus der Verbindung von Thron und Altar und damit verbundener Unterwürfigkeit und Nicht-Verantwortlichkeit funktionslogisch einen Platz hatte (wobei selbst dies mit guten Gründen bestritten werden könnte). Mit Blick auf Aufklärung, Menschenrechte und Moderne jedoch würde sich Antisemitismus als etwas ganz anderes, bereits in vielen Varianten Beschriebenes zeigen: als Unfähigkeit von Menschen, sich der Verantwortlichkeit für ihr eigenes Denken und Handeln zu stellen und entsprechend zu handeln. Antisemitismus erweist sich im Spiegel des so hebräisch-kulturell verstandenen Semitismus als eine Flucht des Menschen vor sich selbst. Wenn Bildung vor allem als ein mehr oder weniger bewusster, mehr oder weniger reflektierter Umgang des Menschen mit sich selbst, mit seinem eigenen Lernen und den dieses Lernen steuernden Vor-Urteilen verstanden wird, bedeutet dies in letzter Konsequenz: Bildung und Antisemitismus sind unvereinbar. Denn im Antisemitismus negiert der Mensch sein Mensch-Sein. Das Nachdenken über eigene Vor-Urteile könnte – so die unaufgebbare Hoffnung – dies vor das innere Auge führen. Anders formuliert: „Bildung gegen Antisemitismus“ bedeutet dann, dass ein Bewusstsein für die Grundstruktur von Bildung Antisemitismus zumindest erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. „Bildung gegen Antisemitismus“ setzt dabei ein in der Anerkennung des Menschen in all seiner Fragilität, Zerbrechlichkeit, Endlichkeit. Ein Bewusstsein für die eigene (relative) Freiheit und Verantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Lernen in Bildung führt – material betrachtet – zumindest weite Teile des zeitgenössischen Antisemitismus und dem damit verbundenen sowohl erkenntnistheoretisch wie ethisch problematischen Othering (sowohl mit Blick auf konkrete Unterstellungen als auch auf den raunenden Verdacht) ad absurdum. Denn Freiheit und Verantwortung für das eigene Lernen zielen auf eine kritische Prüfung von Sachverhalten, vor allem hinsichtlich der eigenen Endlichkeit. Dem halten aber konkrete Unterstellungen und raunende Verdachtsgeräusche nicht stand – das ist trotz allem die bleibende Hoffnung der Moderne.

Jean-Paul Sartre hat den Antisemitismus in seinem berühmten Essay bekanntlich als „eine freie und totale Wahl, eine umfassende Haltung [beschrieben], die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt; er ist zugleich eine Leidenschaft und eine Weltanschauung.“ In dieser Wahl und Haltung geht es um die Antwort auf die Frage, wie mit der eigenen Vernunft und der mit dieser verknüpften Freiheit und Verantwortlichkeit umgegangen werden kann, umgegangen werden soll. Gegen die instinktgetriebene Reduktion der Weltwahrnehmung in ein vermeintlich normativ eindeutiges Gut und Böse gelte es, eine andere Vernunft zu verteidigen. In dieser Vernunft geht es um eine Aufklärung als Prozess des Gewahrwerdens der Bedingungen und Bedingtheiten des eigenen Wahrnehmens und Handelns. Dieser Umgang mit eigenen Vor-Urteilen aber steht im Zentrum eines kritisch-operativen Verständnisses von Bildung. In Bildung geht es vor allem um die Einsicht in, den Umgang mit und das Aushalten von Uneindeutigkeit im Modus der eindeutigen Umgrenzung. Der in diesem Sinne „vernünftige Mensch sucht unter Qualen, er weiß, dass seine Schlüsse nur wahrscheinlich sind, dass sie durch andere Betrachtungen zu Zweifeln werden; er weiß nie genau, wohin er geht; er ist ‚offen‘, er kann als Zauderer gelten. Es gibt jedoch Menschen, die von der Beständigkeit des Steins angezogen werden. Sie wollen massiv und undurchdringlich sein, sie wollen sich nicht verändern.“Versteinerte Menschen sind – leider – eine Realität. Funktionslogisch betrachtet folgt daraus als Konsequenz: Das Recht muss in der Demokratie die umzäunte Mehrdeutigkeit verteidigen, das Gesetz die Steine kontrollieren und ggfs. wegsperren. Bildung jedoch kann vielleicht durch die ästhetische Darstellung der Welt Steine erweichen – wer, wie, was sonst?